Jubel bei schweizer Klägern nach Urteil des EGMR
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EGMR-Urteil

„Historischer Wendepunkt“ für Klimapolitik

Erstmals hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein Land wegen mangelnden Klimaschutzes verurteilt – und damit zum Ausdruck gebracht: Klimaschutz ist ein Menschenrecht. Es sei, so ist sich die Fachwelt einig, ein Präzedenzfall für sämtliche Staaten des Europarates und ein „historischer Wendepunkt“ im Kampf gegen die Klimakrise.

Rund 2.000 Schweizer Seniorinnen warfen ihrer Regierung vor, durch mangelnden Klimaschutz ihre Menschenrechte zu verletzen, und zogen deshalb bis an das Straßburger Gericht. Dieses gab ihnen am Dienstag recht und forderte die Schweiz in ihrem Urteil auf, stärkere Maßnahme für den Klimaschutz zu ergreifen. Zwei weitere Klimaklagen, eine aus Frankreich, eine aus Portugal, wies das Gericht aus formalen Gründen ab.

Daniel Ennöckl vom Institut der Rechtswissenschaften an der Universität für Bodenkultur (BOKU) bezeichnet gegenüber dem ORF das Urteil des EGMR als einen Meilenstein für den Klimaschutz in Europa. „Weil damit klar zum Ausdruck gekommen ist, dass, wenn ein Staat seine Politik nicht an der Einhaltung des Zweigradziels ausrichtet, er die Grund- und Freiheitsrechte seiner Bürgerinnen und Bürger verletzt.“

Freude bei schweizer Klägern nach Urteil des EGMR
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Die Schweizer Aktivistinnen wollen nun „genau darauf achten, dass die Schweiz ihren Verpflichtungen nachkomme“

Klimaschutz als Menschenrecht festgelegt

Die Rechtsanwältin und Expertin für Klimaklagen Michaela Krömer spricht sogar von einem „juristischen Erdbeben“ und „historischen Wendepunkt“. „Es ist deshalb historisch, weil der Gerichtshof klargemacht hat, dass Klimaschutz ein Menschenrecht ist.“

Historisch sei auch, dass internationale Gerichte Klimaklagen und deren Bedeutung nun ernst nehmen. Und dass der EGMR die Staaten zu mehr Klimaschutz verpflichte und diese auch ein Rechtssystem schaffen müssten, in dem Klimaschutzmaßnahmen einforderbar sind.

Urteil „völlig außergewöhnlich“

Ennöckl selbst war „fassungslos“, „überrascht“ und „sprachlos“, war die Entscheidung doch „völlig außergewöhnlich“. Für die Schweiz bedeute das nun, dass sie ihre nationalen Regelungen nachschärfen und einen strengeren Klimaplan vorstellen müsse. Schließlich habe der EGMR nicht nur feststellen können, dass es keine ausreichenden gesetzlichen Reduktionsvorgaben gebe, sondern auch, dass die Umsetzung nicht vollständig überzeuge und Reduktionsziele in der Vergangenheit ebenso nicht eingehalten worden sein.

EGMR Präsidentin Siofra O’Leary
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„Historisch“ sei das Urteil gleich aus mehreren Gründen, meinen Expertinnen und Experten

Mögliche Folgen auch für Österreich

Ähnlich sei die Situation auch in Österreich – auch hier hätte eine Klimaklage folglich Aussicht auf Erfolg, so die Einschätzung des Experten. Natürlich gelte es abzuwarten, was das Urteil für die kommenden Wochen, Monate und Jahre bedeute, es sei jedoch damit zu rechnen, dass es nun eine weitere Welle an Klagen geben werde.

Für Europa- und Völkerrechtler Walter Obwexer ist das Urteil ebenso „bahnbrechend“. „Das hat zur Konsequenz, dass dieses Recht auf Klimaschutz nun auch in Österreich gilt“, so der Experte. Gerichte hierzulande müssten infolge des Urteils ihre verhältnismäßig strengen Voraussetzungen für Klagen lockern und Klimaaktivistinnen und -aktivisten oder Organisationen leichteren Zugang geben.

Urteil mit Signalwirkung

Dafür sei unerheblich, ob es in Österreich ein – von vielen Expertinnen, Experten und Organisationen schon seit Jahren gefordertes – gültiges Klimaschutzgesetz gebe. In der EU gelten klare Vorgaben zur Eindämmung des menschengemachten Klimawandels, und die Mitgliedsstaaten seien daran gebunden. Wenn der eigene Staat keine entsprechenden Maßnahmen setze, könne gerichtlich dagegen vorgegangen werden.

Das Urteil an sich bindet zwar erst einmal nur die Schweiz, hat aber große Signalwirkung. Denn der EGMR gehört zum Europarat und ist für die Einhaltung der Menschenrechtskonvention zuständig. Zum Europarat zählen die EU-Staaten, aber auch andere große Länder wie die Türkei und Großbritannien. Das Urteil könnte nun also ein Präzedenzfall für weitere Klimaklagen nicht nur vor dem EGMR, sondern vor unzähligen nationalen Gerichten werden.

Enttäuschung bei Klägern aus Portugal nach Urteil des EGMR
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Die Klimaklage von portugiesischen Jugendlichen wurde aus formellen Gründen abgelehnt

„Gerichte alleine werden das Klima nicht retten“

Außer Frage stehe aber auch: „Gerichte alleine werden das Klima nicht retten. Das muss die Politik machen. Es ist auch nicht Aufgabe der Gerichte“, meint Ennöckl. Doch die Justiz könne hier gewissermaßen als „Auffangnetz“ fungieren, wenn die Politik die Klimaschutzziele außer Augen verliere, so der Rechtswissenschaftler sinngemäß. Angesichts der Situation, in der sich das Weltklima befinde, handle es sich dabei aber um „ein Auffangnetz, auf das wir nicht verzichten sollten“.

Experte zum Klima-Urteil

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat erstmals entschieden, dass Klimaschutz ein Menschenrecht ist. Dazu ist Michael Fremuth, wissenschaftlicher Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Grund- und Menschenrechte zu Gast bei Kathrin Pollak.

Laut dem Schweizer Justizministerium, das die Regierung vor dem Europäischen Gerichtshof vertritt, sei das Urteil jedenfalls endgültig und müsse umgesetzt werden. „Zusammen mit den betroffenen Behörden werden wir nun das umfangreiche Urteil analysieren und prüfen, welche Maßnahmen die Schweiz für die Zukunft ergreifen muss“, erklärte die Behörde.